F.Höpflinger

Alice im Schweizerland

Eines Tages, als Alice auf der Suche nach Kaninchenlöchern war, kam sie an ein grosses, goldenes Tor. Das Tor wurde von einem gelangweilten Zöllner bewacht.

"Wohin führt der Weg?" wollte Alice wissen.

"In die Schweiz, das sauberste und feinste Land der ganzen Welt", brummte der Zöllner unwirsch. "Was willst Du in der Schweiz: Arbeit oder ein Konto?"

Da Alice Arbeit nicht mochte und Konto ein so lustiges Wort mit zwei O war, rief sie rasch: "Ich will ein Konto!"

"Da hast Du aber Glück", erwiderte der Zöllner schon freundlicher. "Gastarbeiter lassen wir nicht mehr rein."

"Was ist ein Gastarbeiter?" wagte das Mädchen zu fragen.

"Ein Gastarbeiter ist jemand, der sich so fein und gediegen zu benehmen hat wie ein Gast und der so hart und lange arbeiten muss wie ein Arbeiter. Und will er, irgendwann, nach vielen Jahren, Schweizer werden, muss er sich noch feiner benehmen und noch härter arbeiten."

Alice dankte dem Zöllner und rannte durch das goldene Tor in das Wunderland. Schon nach wenigen Schritten kam sie an eine grosse, offene Halle, in der graugekleidete Arbeiter an einer übermannsgrossen Maschine werkten.

"Wir bauen die Maschine, um sie in ein fernes Land zu verkaufen", erklärte einer der Arbeiter, als sich Alice neugierig in die Halle schlich. "Im fernen Land stellt die Maschine massenweise Schuhe her, die dort niemand bezahlen kann und die hier niemand importieren will."

Alice war beeindruckt. Alle waren fleissig. In der ganzen Halle wurden Maschinenteile geschoben, geschliffen und montiert. Nur einer stand herum und war untätig.

"Was macht der dort mit dem dicken Bauch?" fragte Alice vorwitzig.

"Das ist unser Arbeitgeber!" riefen die Arbeiter im Chor. "Er nimmt die Arbeit, die wir ihm geben. Er unternimmt alles, damit wir alles unternehmen, dass er nicht arbeiten muss."

Alice war höchst erstaunt. Sie getraute sich jedoch nicht, weiter zu fragen, da die Arbeiter hochbeschäftigt waren. Glücklicherweise erblickte sie einen zweiten Mann, der einfach in der Halle stand und nichts tat. Sie ging auf ihn zu.

"Bist Du auch ein Arbeitgeber?" wollte sie wissen.

"Nein, wo denkst Du hin!" Der Mann wich beleidigt zurück. "Ich bin der Vertreter der Gewerkschaft. Ich vertrete die Interessen der Arbeiter, so dass die Interessen der Arbeitgeber diejenigen der Arbeiter werden und umgekehrt."

"Was arbeitest Du aber wirklich?" bohrte Alice weiter.

"Ich vertrete", grollte der Vertreter der Gewerkschaften, und er lief verärgert zum Arbeitgeber, um sich über das vorwitzige Mädchen zu beschweren.

Aber Alice war unterdessen schon in eine zweite Hallte gerannt. Hier sassen viele Frauen an Tischen und setzten feine Uhren zusammen.

"Schön, was Ihr da macht!" schrie Alice begeistert.

"Ruhe, Ruhe!" empörten sich die Frauen. "Sei um Gottes Willen ruhig, sonst hören wir das Ticktack der Uhren nicht und wissen nicht, ob sich die Zeit in gewohnter Ordnung vorwärtsbewegt. Wehe uns, sollten wir auch nur eine einzige Sekunde verpassen. Ruhe, Ruhe!"

Gekränkt verliess Alice die Zeitwerkstatt. Sie kehrte in die Maschinenhalle mit den geschäftigen Arbeitern zurück. Die Arbeiter nickten freundlich, als sie Alice wieder sahen. Nur der Arbeitgeber drehte ihre demonstrativ seinen breiten Rücken zu.

Alice liess sich nicht stören und streifte frischvergnügt durch die Halle. In einer dunklen Ecke erblickte sie einen kleinen, mürrischen Kerl, der eifrig in ein kleines Notizbuch kritzelte.

"Wer ist der Murrkopf in der Ecke?" fragte sie einen der Arbeiter.

"Oh, das ist nur Cincera, unser werkeigener Subversionsspezialist, nichts weiter", flüsterte er. "Sei vorsichtig!"

Aber Cincera hatte sie schon erspäht. Hüpfend sprang er auf das Mädchen zu, sein Notizbliceuch hoch erhoben.

"Was ist Ruhe und Ordnung?" bellte er heiser. Alice schwieg. Sie wusste nichts zu sagen.

"Verdächtig, sehr verdächtig", seufzte Cincera. "Dein Stillschweigen spricht Bände." Er nahm sein Notizbuch und kritzelte eifrig wirre Zeichen. Das Mädchen sah, dass er nur Unsinn schrieb und lachte.

"Du lachst, höchst subversiv." Und Cincera schrieb weitere wirre Zeichen in sein Buch. "Ruhe und Ordnung ist", belehrte er das Mädchen, "wenn Leute mit Geld dafür sorgen, dass Leute ohne Geld Ordnung halten, so dass Leute mit Geld ihre Ruhe haben. Und nun raus, Du hast hier nichts zu suchen!"

So ging Alice weiter. Bald kam sie an einen kleinen Bach. Darin schwammen viele Fische, ihre weissen Bäuche der Sonne zugewendet. Alice winkte ihnen zu, aber keiner der Fische winkte zurück. "Höchst unhöfliche Fische", dachte sich Alice.

Da hörte sie ein kurzatmiges Bellen, und in der Nähe eines abgestorbenen Baumes erblickte sie einen grossen, schwarzen Hund, der ohne Unterbruch vor sich hin bellte.

"Warum bellst Du die ganze Zeit?" wollte sie wissen. Das Bellen ging ihr schrecklich auf die Nerven.

"Ich suche mein Herrchen", bellte der Hund betrübt.

"Wieso brauchst Du ein Herrchen? Ohne Herr und Meister lebt es sich viel besser", erwiderte Alice verwundert.

"Was weisst Du, naives Mädchen, schon von der Schweiz", knurrte der Hund beleidigt. "Wenn ich keinen Herrn habe, bezahlt mir niemand meine Hundesteuer, und wenn die Hundesteuer nicht bezahlt ist, werde ich aus dem amtlichen Hunderegister gestrichen. Wer aus dem Register gestrichen ist, ist ein Niemand, ein Nichts." Er begann erneut zu bellen.

Alice, die Hundegebell nicht ertrug, rief dazwischen: "Komm mit mir. Gehen wir zusammen. Vielleicht finden wir dein Herrchen wieder."

So wanderten sie zusammen weiter. Bald gelangten sie in eine grosse Stadt, die der schwarze Hund von früher kannte. Er führte Alice durch die Stadt und zeigte ihr den Ort, wo ein grüner Wald durch grauen Beton ersetzt worden war, und den Ort, wo der freundliche Metzger einem fleischlosen Büroskelett weichen musste. Der Hund fürchtete diese totsaubere Stadt, in der Spielen verboten war und in der die Menschen es immer eilig hatten.

Nach geraumem Herumschlendern gerieten sie vor ein vornehmes Gebäude, das von zwei steinernen Aktenlöwen bewacht wurde.

"Da gehe ich nicht rein", bellte der Hund. "Ich war schon mal drin, und rein nichts geschah, kein Bellen und kein Beissen."

Aber Alice liess sich nicht einschüchtern und betrat mutig das vornehme Gebäude. Ein langer Gang führte in einen grossen Saal, in dem viele würdige Herren im Halbkreis an Holztischen sassen. Vorne hielt einer eine lange Rede. Doch die anderen hörten nicht zu. Die meisten lasen die Zeitung, und einige schliefen hörbar.

Alice weckte einen der Schläfer. "Was geschieht hier?"

"Mein liebes zukünftiges Stimmpublikum. Du befindest Dich im hehren Stadtparlament. Wir diskutieren und beschliessen die Angelegenheiten unserer Stadt, zum Wohl des Volkes und der Banken."

"Weshalb hört keiner zu, wenn vorne einer eine Rede hält?" wollte Alice wissen.

"Zuhören? Wieso auch? Erstens weiss jeder im voraus, was der andere sagen wird. Zweitens kann man das, was vorne gesprochen wird, morgen in der Zeitung lesen. Und drittens..."

"Wieso geht dann ständig einer nach vorne und hält eine Rede, wenn niemand zuhört?" unterbrach ihn Alice.

Der Parlamentarier war erstaunt. "Ganz einfach: damit morgen etwas in der Zeitung steht. Damit wir, wenn morgen Reden gehalten werden, etwas zu lesen haben, müssen heute Reden gehalten werden. Ganz einfach, aber ich muss jetzt gehen und meine vorbereitete Rede halten."

Er faltete seine Zeitung zusammen, schritt gemessen nach vorne und redete sich die Lungen heiser, während alle anderen die Reden von gestern lasen.

So waren die vornehmen Herren voll beschäftigt, sich ihr Sitzungsgeld zu verdienen. Alice verliess das Gebäude wieder.

"War es interessant?" grinste der Hund schadenfroh.

"Nein, stinklangweilig", musste Alice, klüger geworden, zugeben. "Gehen wir lieber ins Gebäude auf der anderen Strassenseite. Es ist noch grösser und noch vornehmer. Vielleicht ist dort mehr los."

Dieses Haus war aus teurem Stahl und farbgrauem Beton, und es besass lange Fenster, in denen sich die Sonne spiegelte. Männer in pechschwarzen Anzügen und mit schwarzen Aktenkoffern rannten geschäftig durch eine hohe Drehtüre in das Gebäude. Auch das Mädchen und ihr Hund liessen sich von der Drehtüre einfangen. Sie wurden von einem stolzen Portier empfangen. "Zu Ihren Diensten, meine Dame", flüsterte er hochnäsig.

"Ein Konto!" rief Alice geistesgegenwärtig. Sie hatte gelernt, dass Schlagwörter immer alle Türen öffnen.

Der Portier führte sie in eine riesige Halle mit vielen diskreten Nischen. In allen Nischen flüsterten Männer mit schwarzen Aktenkoffern mit Männern mit schwarzen Aktenmappen. Eine der Nischen war leer. Neugierig ging Alice darauf zu. Eilfertig sprang ein schnurrbärtiges Männchen mit Aktenmappe herbei. "Ein- oder Auszahlen?" keuchte es dienstbefliessen.

Alice, da ihr im Augenblick nichts Besseres einfiel, flüsterte: "Konto und Konto!"

Sofort lachte das Männchen herzlich, und es bat sie mit tiefen Bücklingen, in die Nische zu treten und sich in einen breiten Ledersessel zu setzen. Zwei weitere Männer mit Aktenmappen traten eilig dazu und fragten höflich nach ihren Wünschen.

Alice, etwas verwirrt, wollte wissen, wo sie sich eigentlich befinde. Einer der Männer gab stolz Auskunft: "Du bist in einer der berühmten Schweizer Banken, wohin alles Geld der Welt gebracht wird, um in alle Welt verschickt zu werden, jedoch so, dass keiner weiss, wer aus aller Welt Geld bringt und wohin in aller Welt das Geld geht. Nur ich und meine Kollegen wissen es." Er lachte schuldbewusst.

"Ist es nicht traurig, so viele Geheimnisse zu tragen und sie mit niemandem zu teilen?" fragte Alice teilnahmsvoll, denn sie war ein grossherziges Mädchen.

"Manchmal juckt es einen schon, das Geheimnis des Geldes auszuplaudern, aber dann denken wir an unsere stolze Bank und ihr geheiligtes Bankgeheimnis, und wir hüten unsere Zungen", erklärten die Männer. Uebermütig schwenkten sie ihre Aktenmappen in die Luft.

Danach berieten sie Alice des langen und breiten, und ehe sich Alice versah, war sie die stolze Besitzerin eines Bankkontos. "Ein Nummernkonto", wie die Herren von der Bank verschwörerisch flüsterten.

Mit der Miene von Leuten, die ein sündiges Geheimnis teilen, verabschiedeten sich Alice und die Bankherren voneinander. Auch der schwarze Hund nahm Abschied, denn er war soeben als bissbereiter Wächter der Tresore angestellt worden.

Müde geworden, ging Alice den Weg zurück. Nochmals kam sie am Bach mit den totstillen Fischen und an der grossen Maschinenhalle vorbei, wo die Arbeiter arbeiteten, der Arbeitgeber organisierte und Cincera herumschnüffelte. Am goldenen Tor wurde sie vom Zöllner aufgehalten. "Etwas zu verzollen?" fragte er brüsk.

"Ein Konto mit vielen Nummern", schrie sie frech. Da wurde der Zöllner sehr freundlich, und er winkte ihre lange nach.

Alice jedoch war froh, dem Wunderland entronnen zu sein, denn dessen Wunder erschienen ihr nicht besonders wunderbar.


F.Höpflinger

Alice auf der Friedensinsel

Eines Tages, als das Wunderland wegen Renovation geschlossen blieb, ging Alice ans Meer. Am Strand lag ein grünes Ruderboot. Da gerade niemand in der Nähe war, setzte sich Alice ins Boot und ruderte aufs Meer hinaus. Sie schaute fröhlich den Wellen zu und ruderte mit den Fischen um die Wette, bis das Land hinter ihr kleiner und kleiner wurde. Als sie sich umblickte, sah sie nichts als Wasser, und bald wusste sie nicht mehr, wohin sie rudern sollte. Da kam eine Wolke angeweht und wies Alice den Weg zu einer Insel. Es war eine prächtige Insel mit hohen Bergen und tiefen Schluchten. Es war eine reiche Insel, denn sie war über und über mit grauem Beton gepflastert. Nur einige wenige grüne Wiesen und ein Handvoll magerer Bäume erinnerten die Bewohner daran, dass sie einmal arm gewesen waren.

Alice ging ans Land und mischte sich unter die Inselbewohner. Sie waren weder fröhlich noch traurig, weder laut noch leise, sondern ernst, geschäftig und selbstzufrieden. Niemand beachtete Alice. So ging sie weiter, bis sie zu einem Acker gelangte, wo einige feldgrau gekleidete Männer mit Gewehren in der Hand im Kreis herumrannten.

"Was treibt Ihr hier?", wollte Alice neugierig wissen.

"Wir schützen den Frieden, das siehst Du doch", brummte einer der Männer. Er richtete misstrauisch sein Gewehr auf das Mädchen.

"Wieso müsst Ihr den Frieden schützen?" bohrte Alice weiter.

"Weil der Feind dort, uns und unsere Insel vernichten will", antwortete der Mann grimmig und zeigte auf das Meer, geradewegs in die Richtung, aus der Alice gekommen war.

"Dort ist weit und breit niemand, der Euch feindlich gesinnt ist!" rief sie verwundert.

Der Mann lachte breit und putzte stolz sein Gewehr. "Da siehst Du, wie gut wir unseren Frieden schützen. Unsere Waffen sind so mächtig, dass es niemand wagt, unser Feind zu sein."

Alice war mit der Antwort nicht zufrieden und wollte weiterfragen, aber da kam ein kleiner, dürrer Mann mit goldgeschmückter Mütze angerannt. "Weg da, störe uns nicht bei unserem Friedensdienst", rief er empört und jagte seine Männer wieder im Kreis herum.

Da Alice nicht reagierte, wies er entrüstet auf ein grosses Schild. Auf dem Schild stand: "Für den Krieg gerüstet sein, heisst den Frieden erhalten."

Diese Logik mochte ihr nicht einleuchten, doch da sie der Mann mit der Mütze weiter mit harten Augen ansah, trollte sie sich verärgert davon. Sie sprang einer langen Strasse entlang, bis sie zu einem alten Kirschbaum kam. Dahinter erstreckte sich ein weites Feld voller weisser Holzkreuze. Unter dem Kirschbaum lag schläfrig eine dicke, schwarzweisse Katze.

"Was bedeuten die vielen Kreuze?" fragte Alice die Katze.

"Du bist wohl fremd hier, nicht wahr?" schnurrte die Katze spöttisch und liess sich vom Mädchen streicheln. "Diese Holzkreuze gehören zum Friedhof. Hier ruhen alle diejenigen in Frieden, die im Kampf für den Frieden gefallen sind."

"Ist der Friede so gefährlich?" fragte Alice erschrocken zurück, und sie blickte auf das schier endlose Feld von weissen Kreuzen.

Die Katze neigte den Kopf und putzte sich die weissen Pfoten. "Man sieht, Du bist fremd hier. Nichts ist gefährlicher als der Frieden, vom Krieg abgesehen. Denn Frieden macht Krieg unmöglich, und wo kein Krieg möglich ist, ist der Frieden in Gefahr. Der Frieden ist eine zu ernste Sache, um ihn Leuten zu überlassen, die Kriege vermeiden wollen. So behaupten es jedenfalls unsere Generäle, die für den Frieden zuständig sind."

Alice fand alles sehr verwirrlich, doch da die Katze freundlich war, liess sie es auf sich beruhen.

Sie ging weiter, und die Katze folgte ihr, zufrieden schnurrend. Einige Schmetterlinge flogen auf einer kleinen Wiese voller blauer Blumen und rostigbrauner Konservendosen umher. Ein gelb schäumender kleiner Bach floss ruhig dahin. Im Hintergrund erhob sich der Schornstein einer Fabrik hoch in den Himmel, wo grauer Rauch gegen weisse Wolken ankämpfte; ein friedliches Idyll, das nur durch heftiges Hämmern durchbrochen wurde.

Schon nach wenigen Schritten gelangten sie zu einem weitläufigen Fabrikgebäude, wo Arbeiter lange Metallrohre polierten und eine grosse Maschine weisse Funken sprühte. Daneben waren Arbeiter damit beschäftigt, einen gepanzerten Wagen zu bemalen. Ueberall herrschte geschäftiges Treiben. Einzig in einer Ecke schlürfte ein junger Arbeiter genüsslich einen heissen Tee.

Alice ging zu ihm hin und war begierig, den Sinn des Treibens zu erfahren. Der junge Arbeiter trank bedächtig seinen Tee fertig, bevor er Antwort gab, sie aus wachen Augen musternd.

"Dort in jener Ecke wird eine Kanone fertiggestellt; eine Kanone, so mächtig und präzis, dass sie selbst den besten Panzerwagen vernichtet. Und da vorne wird ein Panzerwagen gebaut; ein Panzerwagen so schnell, dass er selbst die beste Kanone zerstört."

"Richtig", lobte ein Ingenieur in weissem Ueberkleid, der sich lautlos herangeschlichen hatte. "Jetzt bin ich gerade daran, einen Panzer zu konstruieren, der von unseren Kanonen nicht zerstört werden kann, und unsere besten Forscher planen eine neue Kanone, die auch meinen neuen Panzer zu vernichten vermag. Du siehst, der technische Fortschritt ist auch in Zukunft sichergestellt."

Der Ingenieur lachte und klemmte sich selbstzufrieden seine Aktentasche unter den Arm. Als er sah, wie der Direktor der Fabrik näher kam, verabschiedete er sich rasch, um wieder in sein Büro zu verschwinden. Der junge Arbeiter zog ruhig ein Butterbrot aus einer Tasche und begann zu essen, ohne sich weiter um Alice, die Katze und den Direktor zu kümmern.

Der Direktor pflanzte sich vor Alice und grinste: "Nicht wahr, eine prächtige Waffenfabrik, hochmodern und effizient, ein Muster von Qualitätsproduktion."

"Seid Ihr nicht für den Frieden, dass Ihr Waffen herstellt?" fragte Alice verwirrt.

"Selbstverständlich sind wir alle, vom Arbeiter bis zum Generaldirektor für den Frieden", rief der Direktor leicht düpiert. "Wir alle hassen Krieg. Wenn ich mir vorstelle, wie unsere hübsche Waffenfabrik durch einen Krieg zerstört werden könnte, wie furchtbar! Wir brauchen den Frieden, um in Ruhe unsere Waffen herzustellen und die Früchte unserer Arbeit zu geniessen."

"Wenn Ihr den Frieden wollt, wieso baut Ihr diese hochgefährlichen Waffen?" wagte Alice einzuwenden. Der Direktor war sichtlich erstaunt, ja fast erbost. "Was verstehst Du schon von Friedenspolitik! Ganz einfach: Wir brauchen Waffen, um uns den Frieden gegen jeden Feind zu erkämpfen; mächtige Waffen, denn auch der Feind besitzt mächtige Waffen. Ich weiss es aus persönlicher Erfahrung, da wir unsere Waffen auch dem Feind verkaufen. So dienen wir beidem: unserer Fabrik und dem Frieden. Wären wir schwächer als der Feind, würde er uns überfallen, und wären wir stärker als der Feind, würde er uns sicherlich mit einem Krieg überraschen, allein aus Angst, wir könnten ihm zuvorkommen. Wir von der Waffenfabrik sorgen dafür, dass immer alle gleich stark sind und erhalten so den Frieden; einen waffengestärkten Frieden, einen eingefrorenen Krieg, der nebenbei unsere Fabrik zum Blühen bringt. Du siehst, alles ist ganz einfach, wenn man nur streng logisch denkt."

Doch Alice hatte genug, und sie eilte davon, ohne sich nochmals nach dem verblüfften Direktor umzusehen. Die Katze folgte ihr erstaunt. "Irgendwie scheint es Dir hier nicht zu gefallen, und dabei ist diese Fabrik so hübsch, mit so vielen Ratten" meinte die Katze leise. "Komm, ich bringe Dich zu Leuten, die Dir sicher besser gefallen." So folgte Alice der schwarzweissen Katze zu einem Dorf mit engen Häusern und einer mächtigen Kirche, wo einige alte Männer der Vergangenheit nachtrauerten und streng bewachte Schüler sich um die Zukunft sorgten.

Hinter dem Dorf erstreckte sich ein grosser Platz. Rundherum standen haufenweise Gitterkäfige, worin weisse Tauben eingepfercht waren. Einige Knaben mit grünen Schürzen waren damit beschäftigt, die vielen Tauben zu füttern und neue Käfige anzuschleppen, da sich die Tauben rasch vermehrten. In der Mitte des Platzes war ein langgestreckter Holztisch aufgestellt. Daran sass ein Dutzend älterer Männer, alle in vornehm silbergraue Uniformen eingekleidet. Einer der Männer verlas gerade eine langatmige Grundsatzerklärung, aber es hörte ihm keiner zu. Die anderen blätterten schläfrig in hohen Papierbergen. Kaum hatte der Mann seine Erklärung beendet, stand ein anderer Mann auf, ein dickes Bündel Papier in der Hand, um seinerseits eine Erklärung abzugeben. Auch ihm hörte keiner zu.

Alice, neugierig wie immer, wandte sich an einen Mann, der gleichgültig an seinen Fingernägeln feilte. "Was ist los?" wollte sie wissen.

Der Mann drehte sich unwillig um. "Dies hier ist eine Abrüstungskonferenz. Damit soll der Frieden endgültig und auf ewig gesichert und besiegelt werden."

Er wies stolz auf die anderen Männer, die unvermittelt mit neu erwachter Energie auf den Redner einbrüllten und ihn mit Papier bewarfen.

"Warum die plötzliche Aufregung?" fragte Alice verwundert.

"Oh, dieser Vertreter ist ein vollständiger Ignorant. Er möchte abrüsten, noch bevor wir richtig aufgerüstet haben", erwiderte der Mann entrüstet und wischte sich ein verirrtes Blatt Papier von der Schulter.

"Wieso aufrüsten? Ich denke, es geht um Abrüstung", wagte Alice schüchtern einzuwenden.

"Ein Kuchen muss auch zuerst gebacken werden, bevor man ihn verzehren kann", entgegnete einer der Männer unwirsch. "Eine richtige Abrüstungskonferenz lohnt sich nur, wenn man vorher richtig aufgerüstet hat. Je mehr man aufrüstet, desto mehr kann man abrüsten. Deshalb muss man, um richtig abzurüsten, vorher entsprechend aufrüsten. Ist doch logisch!"

Er erhob sich in seiner vollen Grösse, um eine lang vorbereitete Erklärung abzugeben. Da alle seiner Meinung waren, brauchte ihm niemand zuzuhören. Alice drehte sich verärgert ab und sah, wie ihre Katze gerade gemütlich eine weisse Taube verzehrte. Sie sprang vor, um der Katze den Vogel wieder zu entreissen. Einer der Knaben mit grüner Schürze hielt sie zurück: "Macht nichts. Wir haben mehr als genug von diesen Tauben." Und er gab der Katze eine zweite Taube.

"Wozu braucht Ihr diese vielen Tauben?" fragte Alice.

"Dies sind alles amtlich geprüfte Friedenstauben, die beim erfolgreichen Abschluss der Abrüstungskonferenz freigelassen werden sollen", meinte der Knabe grinsend. Er steckte Alice eine Taubenfeder ins Haar.

"Warum so viele Tauben? wollte sie wissen.

Der Knabe zuckte die Achseln. "Es hat sich einfach ergeben. Zu Beginn der Konferenz waren es erst zwei Tauben, doch da der Frieden auf sich warten lässt, haben sie sich inzwischen vermehrt." Er rannte weg, um einen weiteren Käfig zu holen.

"Komm, gehen wir weiter", schlug Alice der Katze vor. Die Katze fing sich rasch eine weitere Friedenstaube, und gemeinsam gingen sie weiter, in Richtung einer grossen Stadt.

Rund um die Stadt erstreckte sich ein Ring von kleinen Häusern mit winzigen Gärten, wo sich die Leute verzweifelt den Anschein gaben, auf dem Land zu wohnen. Gegen die Stadt zu wurden die Gärten immer winziger, bis sie ganz verschwanden. Die Häuser dagegen wurden höher und höher, so dass sich die Menschen immer kleiner fühlten.

Alice und die schwarzweisse Katze gingen an machtvollen Bürohäusern vorbei, in denen Hunderte von Menschen endlose Zahlenreihe tippten, und sie sahen riesige Warenhäuser, wo sich alles stapelte, was schön und unnütz war. Daneben standen vornehme Banken, deren schwere Eisentüren unheimliche Geheimnisse ahnen liessen. Ueberall waren viele Leute, die sich beeilten; so als wollten sie dem Schatten der mächtigen Bürohäuser entkommen.

Auf einem kleinen Platz, mitten in der Stadt, streckte eine kleine Buche ihre Zweige in die Höhe, rundherum misstrauisch von Häusern belauert. Die Katze sprang erfreut auf den untersten Zweig der Buche und streckte sich behaglich. Alice lachte ihr fröhlich zu.

Ein langer, hagerer Polizist kam herbeigerannt. "Warum hast Du gelacht, so ohne Grund?" fragte er leise. "Verdächtig, sehr verdächtig." Er führte Alice und die Katze in ein himmelhoch ragendes Verwaltungsgebäude. Alice nahm die Katze auf den Arm und folgte dem Polizist gehorsam durch lange Gänge mit vielen verschlossenen Türen.

An einer der Türen blieb der Polizist stehen, und sie wurden in ein helles Büro geführt. Ein kleiner, fetter Mann liess sich vom Polizisten den Vorfall berichten. Dann entliess er den Polizisten und stellte sich lächelnd vor Alice.

"Es tut mir leid, dass man Euch belästigt hat. Aber eben: Wir müssen vorsichtig sein und uns vor unseren Feinden hüten. Unsere Feinde schlafen nie. Sie können jederzeit losschlagen, unvermittelt, heimtückisch und brutal."

"Wer sind Eure Feinde?" wollte Alice endlich wissen.

"Warte, ich werde Dir unsere Feinde zeigen", antwortete der Mann höflich. Er führte sie durch einen langen Gang zu einer schwer gepanzerten Türe. Er öffnete die Türe mit einem schweren Schlüssel, und sie traten in ein weites Spiegellabyrinth.

"Da siehst Du unsere Feinde, rundherum und in vielfacher Uebermacht", schrie der Mann. Wütend hob er die Faust. "Siehst Du, wie sie uns unverschämt drohen und dabei seitenverkehrt erscheinen lassen."

Alice und die schwarzweisse Katze starrten verwundert in die endlose Spiegelwelt.

"Siehst Du", rief der Mann empört, "selbst weissschwarze Katzen und kleine Mädchen mit hellen Augen hetzen sie gegen uns auf, hinterlistig und grausam." Er ereiferte sich immer heftiger und sein wütendes Zappeln widerspiegelte sich hundertfach.

Aber Alice hatte genug. Sie rannte weg, die Katze fest an sich gedrückt. Sie sprang aus dem Gebäude und an den hohen Häusern und winzigen Gärten vorbei aus der Stadt. Sie rannte an der Abrüstungskonferenz mit den eingesperrten Friedenstauben vorbei und liess auch die Waffenfabrik links liegen. Sie rannte an den Strand zurück und sprang in ihr kleines Ruderboot.

Rasch ruderte sie ins Meer hinaus, bis die Insel endgültig im Dunst verschwand. Als Alice zu Hause, ihre Erlebnisse erzählte, glaubte ihr niemand, denn die Friedensinsel wurde nie wieder gesichtet. Es schien, als ob sie ganz im Meer versunken sei. Nur eine schwarzweisse Katze träumte von Zeit zu Zeit von der Insel mit den vielen Feinden.

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